

«Die Arbeit mit den Tänzer*innen war eine Offenbarung.»
Choreographin Crystal Pite und Regisseur Simon McBurney im Gespräch
Für die Trilogie Figures in Extinction arbeiteten die Choreographin Crystal Pite und der Regisseur Simon McBurney erstmals zusammen. Ein Gespräch über den kreativen Prozess.
Wie habt Ihr Euch kennengelernt?
Simon McBurney (SMB): Wir kannten uns und die Arbeit des anderen schon sehr lange und wollten unbedingt zusammenarbeiten. Ich erinnere mich, dass ich Crystal in New York gesehen habe, als sie mit dem NDT 1 auf Tournee war. Ich habe The Statement gesehen, das war 2016. Die Erfahrung war einfach unglaublich. Ich trat zur gleichen Zeit am Broadway auf und wir konnten die Arbeit des anderen an verschiedenen Abenden beobachten.
Crystal Pite (CP): Ich habe Simon dort gesehen und es war für mich eine lebensverändernde Erfahrung. Er war dort für The Encounter. Das habe ich nie vergessen, die Kraft, die Wirkung, die es auf mich hatte. Dann fingen wir an zu reden und uns auszutauschen, und entdeckten ein gemeinsames Interesse am Thema des Aussterbens. Wir fanden einen Weg, uns auf neutralem Boden zu treffen, nämlich beim NDT. Ich arbeite schon seit über 20 Jahren mit dem NDT zusammen, auch als Associate Choreograper. Es ist für mich wie ein Zuhause.
Wie sieht Euer Kreationsprozess aus?
CP: Wir beginnen unsere Arbeit mit Inhalt und Sprache, Ideen und großen Fragen. Wir finden den besten Weg, diese in verschiedenen Formen auszudrücken. Manchmal durch Text, durch den Austausch von Büchern, Essays, Aufsätzen, die wir gelesen haben. Manchmal durch den Körper oder den Austausch von Erfahrungen aus dem eigenen Leben.
SMB: Bei der Entstehung eines Werkes gibt es viele Impulse. Intuition, die hilft zu entscheiden, ob etwas ‹richtig› ist. Und wir sind zwei Menschen, die auf dieselbe Sache schauen, und das spüren wir beide. Es ist, als ob einem plötzlich die Augen für etwas Anderes geöffnet werden. Es bringt viele neue Möglichkeiten mit sich, wenn man mit jemandem wie Crystal arbeitet.
CP: Wir haben eine ständige Feedbackschleife. Wenn wir im Studio sind, ist es, als würden wir einen Ball hin und her werfen. Einer pflanzt den Samen, der andere gibt Wasser dazu. Flüssig, einfach, intuitiv, es ist organisch zwischen uns. Es hat auch etwas sehr Hilfreiches, sich manchmal zurückzulehnen und der Beobachter zu sein, wenn der andere die Führungsposition einnimmt. In unseren eigenen Unternehmen sind wir die ganze Zeit in einer führenden Position, aber in dieser Zusammenarbeit können wir die Rollen tauschen. Führung ist ein anderer Teil des Gehirns als der kreative Teil. Es ist eine Freude, damit zu spielen.
Worum geht es in der Trilogie Figures in Extinction?
SMB: In Figures in Extinction [1.0] (2022) haben wir eine Reihe von Tieren und
Naturphänomenen portraitiert, die ausgestorben sind. Diese Porträts sehen fast wie Träume aus. Einer dieser erstaunlichen Tänzer/Schauspieler hat Verlängerungen der Hörner an den Armen, die weit über das hinausgehen, was das eigentliche Tier hatte. Das erweitert unsere menschliche Verbindung mit dem Tier. Die Tänzer verhalten sich wie diese ausgestorbenen Tiere, aber nicht so, dass sie versuchen, die Tiere zu sein, sondern sie zeigen uns, wo das Tier in unserem Körper lebt. Wir erforschen auch, wie wir Tiere, zum Beispiel Haustiere, das Leben sehen und wie sie uns betrachten. Es gibt dieses Gefühl der Trennung, aber warum sind wir von den Tieren getrennt? Wir sind Tiere.
CP:Figures in Extinction [2.0] (2024) ist eine Antwort auf den vorherigen Teil. Es ist ein Porträt des menschlichen Wesens, ein Spiegel. The Master and His Emissary von Iain McGilchrist und seine Theorie des geteilten Gehirns hat uns inspiriert. Dabei haben wir uns für den Menschen interessiert, und versuchten, unser eigenes Aussterben zu verstehen. Wie sind wir hierhergekommen? Was ist mit uns, unseren Gehirnen, unserem Verstand? Was ist der Kern der Krise, in der wir uns befinden, die gestörte Beziehung, die wir zur lebenden Welt haben? Die Entfremdung von uns selbst.
SMB: Diese Arbeit fühlte sich an wie der Startschuss für Figures in Extinction [3.0], das große Finale. Die Fragen gingen weiter, es entwickelte sich eine Flugbahn, die diese letzte Arbeit zu dem einsamen Stern machte, auf den wir auf den wir uns die ganze Zeit über zubewegten. Es geschah außerhalb unserer Körper, wir stellten große Fragen über das Unbekannte. In diesem dritten Stück geht es um die Vergänglichkeit der Menschheit und warum wir uns von den Toten entfernt haben. Wo sind sie jetzt? Wie sollen wir als Menschen überleben, wenn wir Verbindung zu uns selbst, zueinander, zu unseren Vorfahren und zur Natur verloren haben, inmitten dieser Krise, in der wir uns befinden? Während des Entstehungsprozesses haben wir eng mit den NDT 1 Tänzern zusammengearbeitet und sie über ihre Familien, ihre Vorfahren und ihre Geschichte befragt. Das macht es zu einem extrem intimen Prozess für alle Beteiligten.
Wie war es, mit den NDT-Tänzern zu arbeiten?
SMB: Es ist ein Vorteil und ein Privileg, mit diesen erstaunlichen Künstlern zu arbeiten, die einfach auf einer anderen Ebene sind. einer anderen Ebene stehen.
CP: Die Tänzer sind eine Matrix für uns, sie sind der Ort, an dem wir uns treffen. Die Tänzerinnen und Tänzer haben auch einen enormen Input. Sie sind furchtlos, zögern nicht. Ihre Ideen stimmen mit unseren überein, aber manchmal führen sie uns in eine andere Richtung, die uns inspiriert und überrascht. Die Arbeit mit ihnen war eine Offenbarung und hat uns verändert. Sie sind eine wahre Kraft.
Interview: NDT
Zwischen Abgesang und Hoffnung
Das Nederlands Dans Theater (NDT) gastiert nach langer Zeit wieder in Berlin
In dem dreiteiligen Abend Figures in Extinction [1-3] widmen sich die Choreographin Crystal Pite und der Theatermacher Simon McBurney einem der drängendsten Themen unserer Zeit: der Klimakatastrophe. In überwältigenden Bildern untersuchen sie die komplexen Beziehungen zwischen Mensch und Natur im 21. Jahrhundert.
Wenn sich zwei kongeniale Kreative zusammentun, die für ihre geradezu magischen Kreationen auf der Bühne zu Weltruhm gelangt sind, darf man etwas Außergewöhnliches erwarten. Die kanadische Choreographin Crystal Pite und der britische Schauspieler und Theaterregisseur Simon McBurney haben sich über mehrere Jahre und Kontinente hinweg über ihre Ängste und vorsichtigen Hoffnungen angesichts unseres Zeitalters ausgetauscht. Ihre Recherchen für ein gemeinsames Projekt zur Klimakrise versammeln ein überraschend reichhaltiges Spektrum an Quellenmaterial: vom Geräusch schmelzender Polkappen bis zu den Rufen von Klimawandelleugnern, von akademischen Vorträgen über die Neurowissenschaften des Gehirns bis zum Geplapper von Instagram-Influencern. Auf dieser Basis sind in vier Jahren drei Werke für das Nederlands Dans Theater (NDT1) entstanden, wobei jeder Teil der Trilogie als Reaktion auf das vorangegangene Stück zu verstehen ist.
1 Figures in Extinction [1.0], 2022 in Den Haag uraufgeführt und mit dem wichtigen niederländischen «Zwaan» Preis als die beeindruckendste Tanzproduktion ausgezeichnet, konfrontiert uns in überwältigenden Bilder mit allem, was auf unserem Planeten im Sterben liegt – vom Pyrenäensteinbock und dem Karibu bis zum regenbogenfarbenen Giftfrosch, dem Säbelzahntiger und dem chinesischen Löffelstör bis zu durch Menschenhand zerstörten Gletschern und Seen. 22 Tänzer*innen des NDT1 kreieren unter Einsatz von Puppen, farbenfrohen Kostümen, poetischen Videos und Simon McBurneys Stimme aus dem Off eine tanztheatralische Naturdokumentation, die uns den tragischen Reigen des Aussterbens vor Augen führt.
2 Der zweite Teil der Triologie, Figures in Extinction [2.0] - But then you come to the humans wurde im Februar 2024 in Den Haag uraufgeführt. Wie der Titel vermuten lässt, geht es darin um den Menschen, vor allem um sein Bedürfnis nach Verbindung in einer vereinzelten und von Informationen überfluteten Welt. Aus dem Off ist der Neuroforscher und Psychiater Iain McGilChrist zu hören, der eindringlich davor warnt, unsere empathiefähige rechte Hirnhälfte gegenüber der datenverarbeitenden linken zu vernachlässigen. Die wunderbare Fähigkeit des Menschen, zu träumen, zu kontemplieren und mitzufühlen, droht sonst für immer verloren zu gehen, wie die in Teil 1 vorgeführten Tier- und Pflanzenarten. Und genau das könnte unser Untergang sein.
3 Der dritte Teil Figures in Extinction [3.0] wird seine Weltpremiere während des Manchester International Festival im Februar 2025 feiern. Pite und McBurney setzen den interdisziplinären Austausch fort, konzentrieren sich mit diesem Stück aber auf die Frage, wohin unsere kollektive Reise auf diesem Planeten als nächstes gehen wird. Verlässliche Antworten kann es nicht geben, aber viele bewegende Bilder voller Fantasie und Hoffnung. Mit Imagination einen Funken Licht ins Dunkel zu bringen und neue Möglichkeiten für unser Leben in der Zukunft aufzuzeigen, ist das Anliegen dieses letzten Teils. Figures in Extinction [1-3] ist eine Koproduktion von Nederlands Dans Theater und Complicité. Ein Abend im Auftrag von Factory International. Koproduziert von Parkstad Limburg Theatres Heerlen & Montpellier Danse. Es tanzt das Ensemble des NDT 1.
Entnommen aus der Ballettzeitung No. 4, Text: Maren Dey
