Keine weiteren Vorstellungen in dieser Spielzeit.
«Man kann mit einer Illusion nicht das Leben füllen»
Gefangen zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Intendant Christian Spuck über seine Kreation Bovary
Gefangen zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Intendant Christian Spuck über seine neue Kreation Bovary, die erste Premiere der Spielzeit 23/24.
Gustave Flauberts Madame Bovary, veröffentlicht 1856, ist ein Klassiker der französischen Literatur des literarischen Realismus und löste nach seiner Veröffentlichung einen Skandal aus. Flaubert wurde der Sittenwidrigkeit angeklagt, gewann jedoch den Prozess. Der Roman porträtiert die junge Emma Bovary, die sich in ihrer Ehe und in den engen Grenzen der Provinz gefangen sieht. Ihre Versuche, aus den gesellschaftlichen Normen auszubrechen und sich mit Liebhabern und materiellem Luxus das Leben nach ihren eigenen Wünschen zu formen, führen in eine Abwärtsspirale aus Schulden, Schande, Verzweiflung und schließlich in den Selbstmord. In Bovary beleuchtet Christian Spuck die Innenwelten der Figur und ihre tragische Suche nach Erfüllung, die sie zu einem zeitlosen Symbol menschlicher Sehnsucht macht.
Staatsballett Berlin (SBB) Madame Bovary ist ein Klassiker der Weltliteratur. Warum genau dieses Werk für ein Ballett?
Christian Spuck (CS) Madame Bovary verfolgt mich schon seit meiner frühesten Jugend. Ich habe es jetzt noch einmal gelesen, weil ich immer auf der Suche nach literarischen Stoffen bin, und der Roman hat mich erneut gefesselt. Die Thematik, die darin angesprochen wird, hat viel mit uns heutzutage zu tun. Ich finde den Roman sehr aktuell und inspirierend in seiner bildhaften und detaillierten Sprache. Ich finde es spannend, wenn auf der Bühne Konflikte erzählt werden, mit denen wir etwas zu tun haben oder mit denen wir uns identifizieren können. An Flaubert interessiert mich insbesondere, dass sich die Figuren auf der Bühne jeglicher Eindeutigkeit entziehen. Emma Bovary ist für mich eine Sympathieträgerin, gleichzeitig kann ich nicht nachvollziehen, was sie tut, und finde sie manchmal fast unerträglich. Das trifft auch auf die anderen Hauptfiguren zu. Aber genau das finde ich aufregend, wenn es auch eine Herausforderung ist.
SBB Dennoch wird Bovary nicht als ein konventionelles Handlungsballett inszeniert, sondern bricht narrative Strukturen auf. Kannst du deinen Umgang mit der literarischen Vorlage beschreiben?
CS Wir haben das Problem, dass wir beim Ballett das gesprochene Wort auf der Bühne nicht nutzen können. Ein Versuch darauf eine Antwort zu finden, ist sicher die Musikauswahl, aber auch die Choreographie. Es wird Szenen geben, die die Handlung von Madame Bovary nacherzählen. Es gibt viele Momente, besonders in den Pas de deux, die die Geschichte erzählen, sodass sie nachvollziehbar wird. Dennoch geht es mir mehr um Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Figuren, ihre enttäuschten Erwartungen und um ihre Sehnsüchte. Emotionen lassen sich auch abstrakt erzählen. Da kommt dann die Musik zum Tragen, die bewusst kontrastreich angelegt ist. Für mich ist es eine kontinuierliche Suche nach einer Form, die beschreibt, was ein Handlungsballett heutzutage sein könnte.
SBB Wie ist deine Musikauswahl für Bovary?
CS Die Musikstücke von Camille Saint-Saens, Thierry Pécou und György Ligeti spiegeln die im Werk enthaltenen Brüche wider und erzeugen in ihrer Anordnung eine Fallhöhe und somit auch Überraschungsmomente, sodass man dann den komplexen Themen des Romans nachspüren kann. Wenn es um erzählerische Ballette geht, versuche ich in der Musik die Außenwelt und Innenwelten der Figuren akustisch hörbar zu machen. Das mache ich sehr gerne, aber es ist immer schwierig. Für Bovary hat sich angeboten, mit Camille Saint-Saens einen französischen Komponisten zu wählen und ich bin auf seine Klavierkonzerte gestoßen, denen ich bisher im Ballett noch nicht begegnet bin. Die Musik von Ligeti und Pécou kontrastiert den französisch romantischen Klang und zeigt besonders Emmas zerrissene Wahrnehmung.
SBB Du erwähntest gerade, dass es für dich wichtig ist, auf der Bühne Konflikte zu erzählen. In Madame Bovary befasst sich Flaubert mit einer Reihe von Konflikten, die sich um Themen wie Ehe, Sucht, Exzess, Wunschvorstellungen und Selbsttäuschungen drehen. Welche Aspekte dieser Themen sind für dich besonders interessant?
CS Spannend ist immer der Ausbruch aus der Konvention. Damit fängt der Konflikt an. Grundsätzlich finde ich, auf der Bühne muss immer ein Konflikt abgehandelt werden, entweder ein Konflikt untereinander oder ein Konflikt mit sich selbst. Zum Beispiel, wenn sich jemand nicht mehr dazugehörig fühlt, er nicht dazugehören will oder darf. Das ist nach wie vor Hauptthema unserer Gesellschaft, in all seinen Facetten. Der Wunsch, anders sein zu wollen, als man ist, und sich in der Folge über Konsum diese Wunschwelten zu erschaffen, finde ich wichtig zu erzählen. Dieser Versuch, in Luxus und Konsum das ersehnte Glück zu finden, sich zu verkleiden und eine Maske aufzusetzen, mündet schließlich in das Verstecken vor sich selbst. Dieses Versteckspiel und falsche Bilder von sich selbst zu produzieren, ist bei uns heutzutage immer noch en vogue. Ich habe das Gefühl, wir sind alle damit beschäftigt, ein bestimmtes Bild von uns nach außen zu zeigen, insbesondere in den Sozialen Medien. Niemand dort zeigt sich, wie er wirklich ist oder was er wirklich macht.
SBB Emma ist eine sehr ambivalente Figur. Wie siehst du ihre Beziehung zu ihrem Mann Charles? Die Konflikte in ihrer Ehe sind nicht unbedingt stellvertretend für das 19. Jahrhundert, sondern auch für unsere heutige Zeit gültig?
CS In dieser Ehe treffen zwei verschiedene Erwartungen aufeinander. Charles hat lediglich die Erwartung, dass er seinen Beruf ausüben kann. Er liebt Emma wirklich sehr und er möchte sie glücklich machen. Er ist von der Ehe überzeugt, aber auch blind. Er sieht das Problem gar nicht, und merkt auch nicht, wie er von ihr belogen wird. Er ist nicht so, dass er wegschaut, sondern er nimmt es wirklich nicht wahr. Deswegen kommt am Ende des Romans sein Zusammenbruch, wenn er ihre Briefe findet und liest. Er ist dennoch nicht einfach oder naiv, wie er manchmal gelesen und interpretiert wird. Er hat starke Strukturen gefunden, in denen er glücklich werden kann. Das ist eine Form von Freiheit, die vielleicht begrenzt scheint, ihm aber Halt und Sicherheit gibt. Ich glaube, er ist ein glücklicher Mensch. Emma hat das nicht, und das ist auch der Zeit geschuldet, in der sie lebt, da sie keinen sinnerfüllenden Aufgaben nachgehen kann. Sie füllt ihr Vakuum mit den Romanen, die sie liest, und verliert sich in ihren Vorstellungen von Romantik. In ihr entsteht der Wunsch, diese Vorstellungen erleben zu wollen, und sie misst sich auch daran. Das funktioniert natürlich nicht. Man kann mit einer Illusion nicht das Leben füllen.
SBB Heutzutage sind unsere romantischen Vorstellungen ebenfalls genährt von Büchern und Filmen, wir verhalten uns in dieser Hinsicht vielleicht ähnlich wie Emma Bovary ...
CS Flaubert soll ja selbst gesagt haben: «Madame Bovary, c’est moi!» Vielleicht haben wir alle Illusionen oder haben aus Büchern oder Filmen gelernt, wie wir gern leben und auch, wie wir lieben wollen. Auch ich erinnere mich an die ersten großen Liebesfilme, die ich gesehen habe, und bei denen ich dachte: so muss Liebe sein, und so will ich das erleben. Ich glaube, dadurch haben wir bereits eine Erwartungshaltung, bevor wir überhaupt eine Beziehung eingehen. Was dann zu Problemen führen kann, wenn wir dieses Gefühl, das uns suggeriert wird aus Filmen oder aus Büchern, abrufen wollen und zu reproduzieren versuchen. Emma sieht das, was sie gern sehen möchte. An Rodolphe, ihren ersten Liebhaber, richtet sie ihre erste große Projektion von romantischen Vorstellungen. Sie projiziert in ihn ihre erste große Liebe und nimmt überhaupt nicht wahr, dass dieser sie eigentlich vollkommen ausnutzt. Eine Vorstellung von etwas zu haben, heißt aber auch, dass man sich selbst etwas vormacht und sich anders darstellt, als man wirklich ist. Ich entdecke das auch in Emmas Kaufrausch. Wenn diese Projektionen erlöschen oder nicht funktionieren, dann sieht sie die Realität, und die ist unangenehm. Emma flüchtet sich in diese Traumwelten und versucht diese über den Konsum auszufüllen. Deswegen auch ihr tragischer Absturz, wenn sie aus Verzweiflung und Hilflosigkeit schließlich Gift nimmt. Ihr gesamtes Verhalten und auch diese unreflektierte Panik, sofort reagieren zu müssen, finde ich interessant in Bovary zu thematisieren.
Entnommen aus der Ballettzeitung No. 1. Das Gespräch führte Katja Wiegand.
Sind wir nicht alle ein bisschen Emma?
Lesen als Passion von Tanja Schwan
«Bovary» – ein Name wie ein Signal. Ein Name, der Bande spricht und sie buchstäblich bis heute füllt. Als Kürzel ist er längst zum geflügelten Wort geworden, das noch fast 170 Jahre, nachdem eine schillernde Figur namens Emma Bovary die literarische Bühne betreten hat, aufhorchen lässt.
Seinem Schöpfer Gustave Flaubert galt der Romantitel Madame Bovary als Chiffre für eine Ästhetik, die imstande wäre, die erwartungskonforme Praxis realistischen Erzählens auszuhebeln. An der gleichnamigen Titelheldin spielt er literarisch durch, wie sich Realitätseffekte herstellen lassen, wenn eine Gestalt sich auf und aus Papier bildet, um als «Madame Bovary» ein Eigenleben zu entfalten.
Emma speist sich förmlich aus den Lektüren, die sie konsumiert und verschlingt. Einem Container gleich, verleibt sie sich alles Gelesene ein, wird zum Textkörper und selbst zu einem Stück Literatur. Sie lebt, was sie liest und wie sie es liest: wahllos getrieben, exzessiv und sich in Sehnsüchten verzehrend. Wir hören sie romantische Floskeln nachplappern, sehen sie in pseudo-mystische Andachtsgesten versunken, einen spektakulären Ausbruch aus dem Alltagstrott nach dem anderen ersinnen und sich bis zum emotionalen wie auch finanziellen Ruin verausgaben.
Leserin aus Passion, «lebt» Madame Bovary nur, solange sie liest. Als alle Trugbilder ausgeschöpft und alle Ambitionen aufgebraucht sind, geht sie elend zugrunde. Lassen Emmas Fehllektüren ein Scheitern an unerfüllbaren Wünschen zu Lebzeiten vorprogrammiert erscheinen, so bleibt als Ironie der Geschichte die Pointe, dass es eben jene Realitätsflucht ist, die der frustrierten Landarztgattin ein literarisches Nachleben bescheren wird: Emma muss sterben, damit (sie) «Bovary» werden kann.
Noch im Roman findet Madames ausschweifender und verschwenderischer Lebensstil posthum in ihrem bis dahin durch gähnende Langeweile aufgefallenen Ehemann einen Nachahmer. Zu Ehren der Verstorbenen macht sich Monsieur Bovary in einem finalen Akt deren Faible zu eigen, Leben und Sterben als romantische Oper zu inszenieren – koste es, was es wolle. Davon zeugt ein Denkmal, das er ihr errichten lässt. Unverhofft verkörpert Charles, von Emma zeitlebens als uninspiriert verkannt und mehrfach hintergangen, ihre Klischeevorstellung eines Märchenprinzen, wie sie ihn sich immer erträumt hatte. Schließlich enthüllt sich die ganze Tragik(omik) eines «match made in heaven», das sich erst nach Emmas Ableben einstellt. Ihr Suizid lautet die Geburtsstunde des «bovarysme» ein. Die so benannte verzerrte Selbst- und Weltwahrnehmung hat nicht nur ihre Namenspatronin überlebt, sondern auch diesseits der Romanfiktion Realitätswert erlangt. Vom Diskursprodukt zur Diskursproduzentin – ein Nachruhm, wie ihn Flaubert für seine literarische Figur genialer nicht hätte erfinden können. Besser konnte die Wirkungsgeschichte das ihm zugeschriebene «Madame Bovary, c’est moi!» nicht beglaubigen.
Ohne Flauberts wegweisende Erzählverfahren wäre der gewollt banale Plot von Madame Bovary ebenso schnell auserzählt wie vergessen: Gelangweilte Provinzschönheit flüchtet sich aus der erstickenden Enge ihrer Ehe in Tagträume und Affären. Durch Frustkäufe versucht diese ihren monotonen Alltag zu entkommen und häuft so Schuldenberge an, bevor sie als einzigen verbliebenen Ausweg den Selbstmord wählt. Soweit eine Zeitungsnotiz, die dem Autor das Handlungsskelett für sein «Buch über nichts» gedient haben soll.
Dass jenes Nichts Generationen um Generationen in seinen Bann ziehen konnte und nach wie vor zu Aktualisierungen reizt, verdankt sich nicht zuletzt dem «Lektüreschaden» des Bovarysmus. Von den frühen (Manuskript‑)Leserinnen Flauberts, deren Fanpost die Briefwechsel der Jahre ab 1852 versammeln, schreibt sich die bovarystische Linie einer mimetischen Lesart des Romans in der Manier Emmas her. So sehr der Autor die übermäßige Identifikation mit seiner Protagonistin auch zu unterbinden und zugunsten eines unpersönlichen Stils, bar jeden Mitgefühls, zurückzudrängen suchte, begründeten Emmas Erbinnen im Geiste doch einen nie abreißenden Rezeptionsstrang.
Madame Bovary, Medienroman «avant la lettre» [seiner Zeit voraus], gibt eine Blaupause für intermediale Adaptionen ab. Funktioniert das Buch vor Emmas Nase als prothetische Erweiterung des Körpers, ersetzen fremdmedialen Repräsentationsformen – eine «Vorstellung» der Oper Lucia di Lammermoor mit narrativen Mitteln oder präfilmische Schreibtechniken wie Parallelmontagen – die Erzählung in den Schlüsselszenen und ergänzen sie um mehr Drama.
Wollte man in Madame Bovary ein lebendiges Speichermedium für die Summe ihrer Lektüren erkennen, ein schier unerschöpfliches Reservoir an Geschichten von passionierten Liebenden, die sie aus dem Gedächtnis abruft und in verzückten Posen am eigenen Spiegelbild neu ausrichtet, so drängt sich ein Vergleich zu gegenwärtigen Verfahren der Virtualisierung geradezu auf. Man brauchte nur den durch Kitschromane verklärten Blick auf die romantische Liebe gegen die endlosen Bilderfluten hinter Instagram-Filtern auszutauschen, deren zu künstlicher Perfektion aufpolierte Oberflächen der Wirklichkeit nicht standhalten und jedes einzelne bescheidene Dasein unausbleiblich verblassen lassen. Schon wäre man bei den Verheißungen des Online-Dating, das den allzeit verfügbaren Single-Pool nach vordefinierten Suchkriterien filtert und die Illusion nährt, die Liebe fürs Leben sei nur einen Mausklick entfernt.
Ewig währt allein das Versprechen, denn kaum ist den Bedürfnissen je Befriedigung verschafft, werden prompt neue generiert. Wie Emmas Lektürepraxis stets auf den «erlesenen» Augenblick aus ist (und sich in ihm erschöpft), sind auch die Bildregime unserer Zeit der Logik des Konsums unterworfen und verbrauchen sich schneller, als sie genossen werden können.
Wo sich Emma in ihrer Fantasie eben noch Luxus-Luftschlösser, überwölbt von unendlicher Bläue, zurechtgezimmert hatte, umwolkt sich der Himmel. Statt zum Buch greift Madame jetzt zum Arsen und speit auf dem Sterbebett das Gift ihrer Lektüren aus. Was von ihr bleibt, ist Literatur pur. Während ihr Leichnam schon unter der Last des Textgewebes begraben liegt, erzählt sich Madame Bovary – der Roman, zu dem Emma geworden ist – über deren Lebensende hinaus fort.
Obschon Flaubert nicht müde wurde, sich gegen Emmas verschobene Weltsicht zu verwahren und andere wider eine Ansteckung zu wappnen, hat er ihr einen ganzen Roman gewidmet. In diesem Sinne «ist» er Madame Bovary, wie auch wir alle ein bisschen Emma geblieben sind, noch nachdem sie vor unseren Augen zu Staub zerfallen ist. Zwar durchschauen wir die Verblendungsmechanismen, die in Madame Bovary am Werk sind – sind sie uns doch allzu vertraut. Die bovarystische Brille lassen wir uns dennoch nicht nehmen. Nur zu gerne lassen wir uns auf den schönen Schein ein. Auf Flauberts Roman stürzen wir uns mit dem gleichen Lesehunger, den wir von Emma kennen. Wie sie geben wir uns ganz und gar der Verführung durch die Lektüre hin. Mit ihr verlesen und verlieren wir uns, leiden wir am Leben, träumen uns fort in virtuelle Welten. Dass im Namen der Bovary die Romantik verabschiedet und gerettet wird, sich feiert und ironisch infragestellt, macht die gebrochene Figur so faszinierend aktuell.
Entnommen aus der Ballettzeitung No. 1. Den vollständigen Text von Tanja Schwan finden Sie im Programmheft Bovary, erhältlich während Aufführungen des Stücks.
«Der Text sprudelt, wie die Bläschen im Champagnerglas.»
Weronika Frodyma über ihre Rolle in Bovary.
Staatsballett Berlin (SBB) Wer ist Emma Bovary für dich?
Weronika Frodyma (WF) Als ich das Buch las, war ich ein wenig verblüfft über das, was ich da las. [Emma Bovary] ist sehr egoistisch beziehungsweise auf sich selbst bezogen, aber ich konnte mich auch mit so vielen Aspekten ihrer Persönlichkeit identifizieren. Ich dachte, «So fühle ich mich; so denke ich.» Ich musste mir die Frage stellen: «Bin ich Bovary?» Andererseits ärgerte ich mich über sie: «Mensch, das ist nur deine Fantasie. Das ist einfach nicht die Realität. Du kannst nicht erwarten, dass das funktioniert. Du kannst nicht so egoistisch sein und all diese Menschen für dein eigenes Vergnügen herabsetzen.» Aber gleichzeitig sympathisiere ich mit ihr. Das Buch zu lesen, war eine Entdeckungsreise. Du fängst definitiv an, dich selbst, deine Wünsche und Träume zu hinterfragen.
SBB Welche Charaktereigenschaften hat Christian Spuck dich gebeten, zu betonen?
WF Er hat das nicht wirklich spezifiziert. Er hat kein psychologisches Profil von ihr erstellt. Es entwickelte sich mehr in verschiedenen Situationen, die wir probten. Er gibt situationsspezifische Hinweise. Er stellte sie als diese Frau vor, die zwischen Träumen und Realität existiert. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt ihres Charakters, dass sie so frustriert von ihrem Leben ist, weil es einfach nicht der Fantasie entspricht, die sie sich für sich selbst geschaffen hat.
SBB Ist sie für dich eine zeitgenössische Figur?
WF Ihre Geschichte ist so relevant; es ist eine sehr menschliche Geschichte. Diese Geschichten wiederholen sich, egal in welcher Zeit, egal welche Konventionen herrschen. Wir sind Menschen und haben ähnliche Wünsche, Bedürfnisse, die wir in unserem Leben erfüllt haben möchten. Deshalb ist diese Geschichte zeitlos, auch wenn das gesellschaftliche Urteil jetzt anders ausfallen würde. Ich bin mir sicher, dass sie heute noch existiert.
SBB Wie beeinflussen die gesprochenen Passagen aus dem Buch dein Tanzen?
WF Der Text sprudelt, wie die Bläschen im Champagnerglas. Die Poesie des Tanzes steht im Kontrast zu den Worten. Diese heben das Drama der Situation hervor; es geht einem unter die Haut. Und wenn ich anfange zu tanzen und die Musik höre, öffnen sich alle Sinne, und dann resonieren diese Sätze aus dem Buch direkt mit mir. Sie gehen tiefer als wenn du sie nur auf dem Papier lesen würdest.
SBB Was denkst du ist das Motiv hinter ihrem Selbstmord?
WF Ihr Selbstmord ist der «einfache» Ausweg aus ihren Problemen; ein egoistischer Akt, der ihren Charakter ihr ganzes Leben lang stark prägt. Eine schnelle Möglichkeit, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, um ihren Schmerz, ihre Angst, das unerträgliche Gewicht des Drucks, der auf ihr lastet, und die unausweichliche Konfrontation mit der Realität zu beenden. Ohne darüber nachzudenken, wie es diejenigen um sie herum beeinflussen könnte. Genauso, wie sie es immer getan hat ... Alles beruht auf Lügen und Geld, das sie nicht hat. Und darauf, vorzugeben, jemand zu sein, der sie nicht ist. Es ist eine Möglichkeit, sich selbst nicht im Spiegel sehen zu müssen, ohne das Geld, die schönen Kleider, die unerreichbaren Träume und leidenschaftlichen Liebhaber. Einfach die schlichte und unspektakuläre Emma, die sie nicht sein will.
SBB Etwas, das nicht ungewöhnlich ist, wenn man sich die heutige Besessenheit mit sozialen Medien ansieht.
WF Es ist etwas Menschliches im allgemeinen, nicht nur in den sozialen Medien. Ich denke, Soziale Medien bringen es auf ein anderes Level. Schon bevor es Soziale Medien gab, dachten wir alle irgendwie, dass wir ein bestimmtes Bild von uns selbst erschaffen müssten: stark sein, zuverlässig sein, immer gut gelaunt, auch wenn man leidet. Es gibt also bestimmte Masken, die wir aufsetzen, um einen Tag professionell durchstehen zu können. Aber dann gibt es natürlich dieses absolute Extrem in den Sozialen Medien. Und ich denke, das ist dem, was Emma getan hat, näher: all diese Kleider, all diese Filter, wie man aussehen, was man besitzen, was man tun sollte. Und nichts davon basiert auf Realität. Es ist nur eine schöne Konstruktion ohne jegliches Fundament.
Entnommen aus der Ballettzeitung No. 1. Das Gespräch führte Michael Hoh.
«Die Kostüme erzählen eine Geschichte»
Werkstattbesuch mit Kostümbildnerin Emma Ryott
In der Produktion Bovary stehen nicht nur die Tänzer*innen im Rampenlicht: Über 100 von Hand und auf Maß gefertigte Kostüme setzen das Geschehen in Szene. Gefertigt werden sie in den Werkstätten des Bühnenservice. Zu Besuch an einem Ort, der Theaterträume wahr werden lässt.
Bühnenservice Berlin, sieben Wochen vor der Premiere von Bovary: Zwei Damen stehen vor einem Haufen bunter Straußenfedern, Strasssteinen und Tüll, drapieren diese in unterschiedlichen Varianten und begutachten das Zusammenspiel der Materialien. Kostümbildnerin Emma Ryott ist da, um die Anfertigung der Kostüme für die Produktion Bovary zu begleiten. Gemeinsam mit Anita Fremy, Modistin in der Stiftung Oper in Berlin, denkt sie über die ausgefallenen Kopfbedeckungen nach, die für die «Revue» genannte Szene benötigt werden. In dieser besucht Protagonistin Emma Bovary, eine Landarztgattin, mit ihrem Mann das Theater in der nächstgelegenen Stadt Rouen und wird mitgerissen von einer schillernden Welt als Gegensatz zu ihrem dörflichen Leben. Die Kostüme erzählen diese Geschichte maßgeblich mit.
Knapp einen Monat vor der großen Premiere sind fast alle Kleider entweder fertiggestellt oder in der Anfertigung. Über hundert maßgeschneiderte Roben sind dies alleine für die erste Besetzung. Die zweite Besetzung muss ebenfalls bereitstehen, denn kurzfristige Umbesetzungen sind immer möglich. Die Kostümmitarbeitenden befinden sich also bereits im Endspurt dieser Produktion.
Der Prozess des Kostümdesigns beginnt bereits ganz am Anfang einer Stückentwicklung. «Vor anderthalb Jahren haben wir uns für ein Brainstorming-Wochenende getroffen», so Emma Ryott. «Wir», das sind der Choreograph Christian Spuck sowie sein künstlerisches Team, also Dramaturg Claus Spahn, Bühnenbildner Rufus Didwiszus und Kostümbildnerin Emma Ryott. «Dieses Wochenende war sehr konzentriert, wir hatten viele Unterhaltungen, haben Bilder angeschaut, über das Buch reflektiert. Und dann haben wir unsere Ideen zusammengeworfen und geschaut, ob wir gemeinsam in die richtige Richtung gehen.» Das so entwickelte Gesamtkonzept wurde in den folgenden Monaten in die Werkstätten des Bühnenservice getragen und dort in die Realität umgesetzt.
Im Bühnenservice Berlin, Deutschlands größtem Theaterdienstleister, werden alle Kostüme für die Stiftung Oper in Berlin angefertigt – also für die drei Opern und das Staatsballett Berlin. In dem Werkstatt- und Verwaltungskomplex am Ostbahnhof werden Theaterträume Wirklichkeit. Auf einer Fläche von 25.000 Quadratmetern arbeiten rund 260 Mitarbeiter*innen, vom Dekorationsbau über die Kostümerstellung bis zum Personalservice. Emma Ryott kann sich auf die dortigen Mitarbeitenden, sechs Gewandmeisterinnen, und bis zu vier Modistinnen, die an der Produktion arbeiten, voll und ganz verlassen: «Es ist eine großartige Teamarbeit und es ist wichtig, dass wir einander vertrauen und einen Dialog führen können.» Die Engländerin ist international als Kostum- und Bühnenbildnerin tätig. Derzeit jongliert sie neben der Premiere in Berlin mit drei Produktionen in Kanada, England und Dresden. Bereits seit 2003 und der Produktion Lulu. Eine Monstretragödie verbindet sie mit Christian Spuck eine künstlerische Zusammenarbeit. Immer wieder ist sie für Bovary mehrere Tage und Wochen zu Besuch in Berlin, begleitet Anproben mit den Tänzerinnen und tauscht sich mit dem Team über den Fortschritt der Kostümanfertigung aus.
Was sind ihre Leitideen für die unterschiedlichen Gewänder? «Die Kostüme sind lose in den 1850er Jahren angesiedelt. Es ist sozusagen meine Version von 1850. Historische Kostüme waren detailreicher. Hier gibt es weniger Wirrwarr.» Immer wieder sind auch moderne, einfache Schnitte zu sehen, die die Brechung der narrativen Struktur unterstützen. «Die abstrakten und die historischen Kostüme sind durch die gemeinsame Farbwelt miteinander verbunden.» Außerdem kontrastieren die unterschiedlichen Lebenswelten und ihre Gewänder: Im Dorf Yonville leben erdverbundene Menschen in bäuerlicher Kleidung, beim Ball zeigt sich die raffinierte und kultivierte Oberschicht, und in der Theaterszene ist eine fantastisch angehauchte Welt zu erleben.
Neben der inhaltlichen Inspiration sind auch praktische Fragen von Bedeutung, denn: «Alles muss sich bewegen.» Die Kleidung muss eine große Bewegungsfreiheit für die Tänzer*innen bieten, gleichzeitig können wegen der ausladenden Bewegungen auch schöne Effekte durch schwingende Stoffe erzielt werden. Da kann für einen Rock schon einmal 15 Meter Stoff verwendet werden. Für einen gelungenen Auftritt ist den Kostümbildnerinnen kein Aufwand zu groß. Um die Anzüge der Dorfbevölkerung alt und gebraucht erscheinen zu lassen, wird beispielsweise ein mehrtägiger Prozess angewandt. Die neuen Jacketts werden befeuchtet und auf Schaufensterpuppen gehängt. Damit sich Falten und Ausbeulungen bilden, werden die Ärmel mit Schnüren zusammengebunden und Steine in den Taschen gelagert. Nach einigen Tagen ist der Anzug getrocknet und scheinbar um einige Jahre gealtert.
Am 19. Oktober 2023, einen Tag vor der Premiere, werden Emma Ryott und ihre Kolleg*innen vom Bühnenservice bei der Generalprobe von Bovary im Zuschauerraum sitzen und ein letztes Mal überprüfen, ob alles so sitzt wie es sein soll und Straußenfedern, Strass und Tüll den gewünschten Effekt erzielen. «Die Kostüme erzählen eine Geschichte. Es geht immer darum, eine Geschichte zu erzählen.»
Entnommen aus der Ballettzeitung No. 1, Text: Corinna Erlebach