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Die Hoffnung sind wir selbst
Christian Spuck im Gespräch
Michael Küster & Claus Spahn (MK & CS) Christian, wie kam es zu deiner ersten Requiem-Produktion?
Christian Spuck (CS) In einer Umfrage des Opernhaus-Magazins zum 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi habe ich erzählt, dass das Requiem für mich persönlich zu den berührendsten Werken gehört, die ich kenne, und es mich reizen würde, das einmal choreographisch auf die Bühne zu bringen. Kurze Zeit später stand Andreas Homoki in meinem Büro und sagte: «Das müssen wir unbedingt machen!».
MK & CS Woher rührt denn deine persönliche Beziehung zu dem Stück?
CS Ich habe das Verdi-Requiem zum ersten Mal als 17-Jähriger im Radio gehört und fand es sofort so faszinierend, dass ich es mit meinem Kassettenrecorder aufgenommen habe. Es war die legendäre Toscanini-Aufnahme. Ich musste damals ein Referat über Franz Kafka schreiben, saß nächtelang daran und ließ im Hintergrund immer diese Requiem-Musik laufen. Ohne sie ging nichts voran. Das war eine sehr subjektive erste Begegnung mit dem Stück in einer hochemotionalen Lebensphase. Auch wenn meine Auseinandersetzung mit dem Werk heute viel tiefer geht, spüre ich immer noch diese ganz persönliche Verbindung.
MK & CS Welche Relevanz hat der religiöse Hintergrund für dich?
CS Es geht im Requiem ganz allgemein um die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Tod. Um die großen Fragen: Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? In der Reflexion über die Endlichkeit des Daseins sind wir mit uns selbst konfrontiert. Der Mensch blickt auf sich selbst im Angesicht des Todes, und ich glaube, in diesem Sinne hat der kirchenkritische Verdi sein Requiem auch komponiert. Er verwendet zwar den lateinischen Text aus der katholischen Liturgie, aber seine Totenmesse hat weltlichen Charakter und ist keine heilige Messe im kirchlichen Sinne. Sein Requiem wird ja auch traditionell mehr im Konzertsaal als in der Kirche aufgeführt. Das ist kein Zufall. Er zielt vielmehr auf das allgemein Menschliche als auf die konkrete religiöse Botschaft des Textes.
MK & CS Was sagt dir dann der Text?
CS Ich finde ihn sehr problematisch, denn er formuliert im Grunde eine einzige große Drohgebärde: Der Mensch wird am Tag des Jüngsten Gerichts vor den strafenden Gott und Richter geführt, der das Buch der Sünden aufschlägt und ihn entweder in den Himmel aufnimmt oder in die Verdammnis der Hölle schickt. Der Mensch tritt immerzu als angstzitterndes Wesen auf, das um Gnade fleht und sich nach Erlösung sehnt. Das Drohen mit dem Zorn Gottes, dem «Dies irae», war ein probates Machtinstrument der katholischen Kirche. Aber darum ging es Verdi überhaupt nicht. Die Musik spiegelt das auch nicht wider, in ihr geht es nicht in erster Linie um Angst. Sie erzählt von zarten Momenten der Trostsuche, des Loslassens, der menschlichen Gemeinschaft und der Hoffnung im größten Augenblick des Schmerzes. Das «Lacrimosa» zum Beispiel mit seiner wunderschönen, weit ausgreifenden Melodie ist für mein Empfinden wirkliche Trauerverarbeitung.
MK & CS Aber das «Dies irae» besitzt schon alttestamentarische Wucht.
CS Klar, das ist sehr theatralisch. Da spürt man, dass Verdi Opernkomponist war. Die Musik ist unglaublich effektvoll. Aber ich empfinde sie nicht als angsteinflößend im Sinne des Textes. Für mich ist es eher der Schrecken des Todes selbst, seine Unerbittlichkeit, der in der Musik zum Ausdruck kommt.
MK & CS Kann man also sagen, dass du in deiner Bühnenversion des Requiems nicht den katholischen Messtext, sondern die Musik interpretierst?
CS Absolut! Das ist für mich ganz klar. Wenn wir eine neue Szene proben, lese ich immer noch einmal den Text in der Hoffnung, darin etwas zu entdecken, das ich als Motivation in das Geschehen auf der Bühne einbringen kann. Aber das Werk erschließt sich mir immer wieder rein durch die Musik.
MK & CS Was prädestiniert das Verdi-Requiem für eine szenische Umsetzung?
CS Die Musik braucht keine Visualisierung, sie kann vollkommen für sich stehen. Deshalb habe ich mich ständig gefragt: Ist das richtig, was wir hier machen? Woraus kann ich eine Notwendigkeit dafür ableiten? Werden wir der Musik gerecht?
MK & CS Was ist die größte Gefahr bei einer Visualisierung?
CS Dass man anfängt, Geschichten zu erzählen. Dass man Menschen zeigt, die am Grab stehen oder ähnliches. Jeder Versuch, Gesten mit narrativer Bedeutung aufzuladen, geht in die falsche Richtung. Das macht die Aussage des Werks kleiner und endet ganz schnell beim Kitsch. Der Weg zu einer szenischen Realisierung führt nur über die Abstraktion. Mein Wunsch ist es, sechzehn große Tableaux zu entwickeln, die auf die Musik reagieren, ihr etwas Eigenes hinzufügen, szenische Kraft besitzen und den Betrachter die Musik anders hören lassen.
MK & CS Schließt die Abstraktion auch Emotionen aus?
CS Nein, natürlich nicht. Selbstverständlich will ich die Emotionalität, die der Musik innewohnt, auf die Bühne bringen. Und die vermittelt sich durch die Akteure — durch die Tänzer*innen, durch die Sängersolist*innen, durch den Chor, durch die Orchestermusiker*innen. Ganz wichtig dabei ist für mich, dass alle, die auf der Bühne stehen, keine Rollen spielen, sondern Menschen sind und sie selbst. Das ist ein zentrales Thema in allen Proben: Jeder ist er selbst. Die Emotionalität der Musik geht durch jeden, jede einzelne, hindurch in seiner oder ihrer ganzen künstlerischen Individualität. Das gilt für die Tänzer*innen ebenso wie für die Sänger*innen. Tanz und Gesang sind ja durchaus ähnlich in ihrer Ausdrucksart: Sie bewegen sich jenseits von Text und Bedeutung. Es sind abstrakte Sprachen, die viel mehr erzählen, als sich mit Worten ausdrücken lässt. Das Schöne am Gesang und am Tanz ist die Vieldeutigkeit, und die ist mir bei meiner Requiem-Inszenierung wichtig. Ich will, dass die Zuschauer*in selbst in den Bildern liest, was er oder sie darin lesen möchte.
MK & CS Ist es nicht insbesondere für die Sänger*innen schwer, «nichts» zu spielen?
CS Ja, das ist so, denn sie sind es gewohnt, immer in Rollen zu denken und für jede Geste und jeden Gang nach einer schauspielerischen Motivation zu suchen. Mir geht es aber gerade darum, dass sie beispielsweise keine konkreten Trauerszenen darstellen. Darüber hinaus haben wir es da einfacher, weil wir das Bewegungsmaterial immer erst abstrakt entwickeln. Erst, wenn es dann darum geht, Figuren zu entwickeln, nutzen wir das Material, um Charaktere zu formen. Deshalb tun sich Tänzer*innen leichter damit, auf der Bühne einfach nur da zu sein und die Emotionen so mitzuteilen, wie sie sie selbst empfinden.
MK & CS Du versuchst, in dieser Produktion eine szenische Kombination aus Sänger*innen, Tänzer*innen und einem großen Chor. Welche künstlerische Energie lässt sich aus dieser Konstellation gewinnen?
CS Der Wunsch, Tanz und Gesang zu verschränken, ist eigentlich immer zum Scheitern verurteilt. Man kann es versuchen, aber eine wirkliche Verschmelzung gelingt nicht, denn das würde bedeuten, dass der Sänger tanzt und der Tänzer singt. In meiner Choreographie berühren sich Sänger*innen und Tänzer*innen manchmal oder geben sich gegenseitig gestische Impulse, viel weiter kann ich in meiner abstrakten Lesart kaum gehen. Aber trotzdem passiert in den Proben sehr viel zwischen den sonst immer getrennten Abteilungen. Chor, Sängersolist*innen und Tänzer*innen inspirieren sich gegenseitig, geben sich Energie, zollen einander Respekt, der sich in szenischer Spannung niederschlägt. Das empfinde ich als etwas sehr Schönes. Als der Chor zum ersten Mal in der Probe in äußerstem Pianissimo die Anfangstakte des Requiems zu singen begann, waren die völlig ergriffen davon, und umgekehrt übertrug sich die Konzentration in den Bewegungen der Tänzer*innen auf den nur still dastehenden Chor. Dass sich eine gemeinsame künstlerische Energie entwickelt, ein Kontakt, ein Gemeinschaftsgefühl. Man spürt, wie alle füreinander da sind. Mir macht es viel Spaß, mit dem Chor zu arbeiten. Er hat eine Zwischenfunktion, weil er singt, aber doch spielerisch aktiver ist als die Solist*innen. Er kann als anonyme Masse auftreten, aber eben auch als eine große Gruppe von Individuen. Der Chor hat einen tollen Umgang mit der Abstraktion, nach der ich suche.
MK & CS Wie hast du die Arbeit an der Inszenierung begonnen?
CS Ich bin in den Ballettsaal gegangen, habe mir einzelne Musikteile herausgesucht und einfach angefangen zu choreographieren. Dann haben wir das Erarbeitete liegen gelassen, wieder hervorgeholt und die Musik zu den Bewegungen gewechselt oder umgekehrt. Den Pas de trois am Anfang des «Quid sum miser» haben wir oft umgestellt und immer wieder anders gedacht. Es war ein ständiger Prozess des Suchens, der Annäherung und des Verwerfens. Ich habe bei dieser Produktion mehr Zweifel zugelassen als sonst, und ich bewahre mir mit den Tänzer*innen die Freiheit, mich nicht endgültig festzulegen. Die Sängersolist*innen und der Chor sind später hinzugekommen, und wir haben gemeinsam immer weiter gesucht.
MK & CS Die gesamte Ballett-Kompanie ist im Requiem besetzt, und viele Tänzer*innen sind mit solistischen Aufgaben betraut. Was hat dich dazu bewogen?
CS Ich wollte die ganze Kompanie an dieser Produktion beteiligen, weil sie so viele unterschiedliche Persönlichkeiten und Temperamente vereint. Jede Tänzerin und jeder Tänzer ist in der Lage, Verdis Musik auf eine ganz persönliche Weise zum Ausdruck zu bringen, und das wollte ich für die Produktion nutzen.
MK & CS In welchem Raum ist eine szenische Aufführung des Requiems denkbar?
CS Christian Schmidt, unser Bühnenbildner, hat einen großen, geschlossenen, dunklen, leeren Raum entworfen. Über der Decke tut sich kein Himmel auf, und unter dem Boden ist keine Hölle. Die Menschen darin sind auf sich selbst zurückgeworfen. Es gibt schwarzen Schnee, der wie Asche wirkt, und wenig Licht. Irgendetwas Furchtbares scheint passiert zu sein, etwas, das alle gemeinsam betrifft und jeden Einzelnen für sich. Was das genau ist, spielt keine Rolle. Da wir es mit einem Requiem zu tun haben, kann man davon ausgehen, dass ein Verlust zu beklagen ist oder eine Begegnung mit dem Tod stattgefunden hat. Mehr wissen wir nicht.
MK & CS Hält Verdis Totenmesse Trost für den Menschen bereit?
CS Nach den Schrecken von «Dies irae» wird das Stück ja wahrnehmbar ruhiger und schlägt auch berührend lyrische Töne an. Aber das «Dies irae» kehrt immer wieder zurück und entfaltet im abschließenden «Libera me» noch einmal seine volle Wucht. Wir wissen ja, dass dieses «Libera me» der Urkern des gesamten Requiems ist. Verdi hat es als erstes komponiert und aus ihm dann die anderen Teile entstehen lassen. Insbesondere die Schlussfuge steht merkwürdig quer zu den vorherigen Teilen. In der Tonart und wie sie komponiert wurde, hat sie etwas sehr Lebensbejahendes und Diesseitiges und kennt kein Ausgreifen in religiöse Höhen. Ganz am Schluss aber erklingt noch einmal der Sopran mit einer flehenden Geste. Mit ihm kehrt das Dunkle, Traurige und Einsame wieder zurück.
MK & CS Am Ende steht also ein Zeichen der Hoffnung?
CS Ich werde vielleicht kein Hoffnungszeichen inszenieren. Aber die Tatsache, dass da Menschen artikulieren, was sie im Innersten bewegt, ist natürlich ein enormes Hoffnungszeichen. Es gibt keinen anderen Grund für Hoffnung als uns selbst.
Entnommen aus dem Programmheft, 2023. Das Gespräch führten Michael Küster und Claus Spahn 2016.